Nachdem italienische Granaten im Juli 1915 das Dorf Sexten getroffen und mehrere Todesopfer gefordert hatten, wurde von der österreichischen Militärführung beschlossen, das Dorf in der Nacht vom 3. auf den 4. August zu evakuieren. Damit wurden rund tausend Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Alte, zu Kriegsflüchtlingen. Laut ursprünglichem Plan sollte die Bevölkerung, ähnlich anderen Flüchtlingen aus der k.u.k. Monarchie, geschlossen in einem Flüchtlingslager untergebracht werden. Es gelang den Sextnern jedoch, dieses Lagerschicksal erfolgreich zu umgehen und sich in den umliegenden Dörfern des Pustertales zunächst bei Freunden und Familienangehörigen einzuquartieren. Viele zogen in die Nachbardörfer Innichen und Toblach. Da allerdings auch Innichen von der italienischen Artillerie beschossen und teilweise zerstört wurde, mussten viele Sextner ein zweites Mal flüchten. Insgesamt konnten in über 20 Ortschaften Alttirols Sextner Flüchtlinge nachgewiesen werden, wobei sich der Hauptteil auf die Gemeinden des Pustertales verteilte.
Während einige wenige Sextner Bargeldvorräte mitnehmen konnten, ließen die meisten ihr gesamtes Hab und Gut in Sexten zurück; vieles wurde beim großen Brand vom 12. August 1915 vernichtet. Auch wenn es private Initiativen und Hilfsaktionen gab, um den Flüchtlingen nach ihrer Flucht finanzielle Hilfe und Sachspenden zukommen zu lassen, war der Großteil der aus Sexten Geflohenen bald auf staatliche, länger andauernde Unterstützungsmaßnahmen angewiesen. Die Flüchtlinge mussten einen Antrag auf diese „Flüchtlings-Unterstützungen“ stellen, der von den Behörden überprüft und genehmigt werden musste. Zunächst ging das Ansuchen an den Vorsteher der Gemeinde, in der die Flüchtlinge Unterkunft gefunden hatten, dann weiter an die Bezirkshauptmannschaft Lienz. Die Gelder wurden schließlich an die Gemeinden überwiesen, welche ein eigenes Verzeichnis über die Flüchtlinge vor Ort und deren Unterstützungsbeträge führen mussten. Durch dieses langwierige bürokratische Vorgehen verzögerte sich der Erhalt des dringend benötigten Geldes oftmals über Monate. Bisweilen wurden auch Kontrollen durchgeführt, ob die Personen und Familien tatsächlich unterstützungsbedürftig waren. Dabei kam es nicht selten zu Irrtümern. Dem 60jährigen Alois Viertler wurde die Unterstützung beispielsweise wieder aberkannt, da die Behörden fälschlicherweise davon ausgingen, er bekäme noch seinen Lohn für seine Arbeit als Müller, der er in Sexten nachgegangen war. Er war nach der Evakuierung des Dorfes zunächst in Innichen bei seinem Bruder untergekommen, um sich dann 1916 in Toblach niederzulassen, wo er auf die finanzielle Unterstützung seines ehemaligen Arbeitsgebers angewiesen war. Aufgrund einer Krankheit und einer Verletzung an der rechten Hand war es ihm nicht möglich, eine neue Arbeit zu finden, von der er hätte leben können. Er bat daher um Erhöhung seiner Unterstützung, die ihm nach Kontrolle seiner Lebensumstände auch gewährt wurde.1Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, 1162, Alois Viertler Flüchtlingsunterstützung, 21. Februar 1918.
Um die Belange der Sextner Flüchtlinge kümmerten sich insbesondere der Sextner Pfarrer Heinrich Schwaighofer, der zu zahlreichen Sammlungen und Spenden für die Flüchtlinge aufrief sowie der Sextner Gemeindesekretär Franz Happacher, der von Lienz aus die Aufgaben und Pflichten der Gemeindeverwaltung regelte. Er sorgte beispielsweise dafür, dass die Sextner bei Lebensmittellieferungen von den einzelnen Gemeinden, in die sie geflüchtet waren, nicht übergangen wurden.2Gemeindearchiv Sexten, 1916/17, Lebensmittelversorgung 1916, Brief von Franz Happacher an die Gemeinde Vorstehung in Vierschach, 24. Juli 1916.
Kleinere Archive, wie Gemeinde- und Familienarchive, geben reichlich Auskunft über die Situation der Flüchtlinge aus Sexten. Zweifelsohne bieten sie noch Raum für weitere Recherchen, sofern sie für die Forschung zugänglich sind.
Holzer, Rudolf (2002). Sexten: Vom Bergbauerndorf zur Tourismusgemeinde. Sesto-Sexten: Tappeiner Verlag.
Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, 1162, Alois Viertler Flüchtlingsunterstützung, 21. Februar 1918.
Gemeindearchiv Sexten, 1916/17, Lebensmittelversorgung 1916, Brief von Franz Happacher an die Gemeinde Vorstehung in Vierschach, 24. Juli 1916.
Hilfsaktionen für die Sextner Bevölkerung
Das Schicksal der Flüchtlinge aus Sexten machte vor allem Vertreter der vornehmen Wiener Gesellschaft, die sich vor dem Krieg gerne und oft als Touristen in Sexten aufgehalten hatten, betroffen. Sie sammelten zahlreiche Sach- und Geldspenden für die Sextner, die ihr Hab und Gut verloren hatten. In Briefen an die Wiener Bekannten bedankten sich die Sextner für die großzügigen Spenden. Dringend benötigt und geliefert wurden Schuhe für die Kinder der Flüchtlinge für den nahenden Winter. Als sich abzeichnete, dass eine baldige Rückkehr in die Heimat nicht möglich war und die Vorräte dahinschwanden, wandte sich der Pfarrer von Sexten Heinrich Schwaighofer seinerseits in Briefen an den Wiener Redakteur des „Neuen Wiener Tagblatts“ Emanuel von Singer und bat um Unterstützung: „Mit kurzen Worten kann ich die Lage der mir anvertrauten Bewohner von Sexten schildern: Alles verloren – bis auf die wenigen Habseligkeiten, welche bei der schnellen Flucht noch mitgenommen werden konnten.“3Singer, Emanuel von, Die Mütter von Sexten, Neues Wiener Tagblatt, 23. April 1916. Die Aufrufe waren ein Erfolg, denn schon bald sandte der Pfarrer ein Dankesschreiben nach Wien und berichtete von der Verteilung der Spenden: „Von ganzem Herzen also vielmals Dank für alle die Gaben, welche Euer Hochwohlgeboren durch mich den Armen haben zukommen lassen. Tausendmal Vergeltsgott! Den mir näher wohnenden Flüchtlingen habe ich Schuhe, Stoffe und Geld zur Austeilung gebracht. […] Sobald es möglich ist, wird alles zur Verteilung kommen. Besten Dank auch für die Berichte im ‚Neuen Wiener Tagblatt‘, da dieselben einige hundert Kronen für die Flüchtlinge einbrachten, so daß sich auch darin das edle Wienerherz zeigte.“4Singer, Emanuel von, Feuilleton. Pustertaler Volk und Priester im Kriege, Neues Wiener Tagblatt, 30. Mai 1916.
Ein besonders großzügiger Spender und Organisator für Hilfsaktionen für das zerstörte Dorf Sexten und die Flüchtlinge war der Wiener Jurist Rudolf von Granichstaedten-Czerva. Anfang 1918 rief er verschiedene Hilfsorganisationen, darunter die „Hilfsaktion für die Dorfgemeinde Sexten (Tirol)“, in Wien ins Leben und konnte hierfür namhafte Mitglieder und Unterstützer aus Politik und Adel gewinnen.5Das zerstörte Sexten, Neues Wiener Tagblatt, 8. Februar 1918.
Aber auch aus dem weniger weit entfernten Innsbruck kamen Geschenke und Spenden für die Sextner. Im Herbst 1915 stellte die Stadtverwaltung Innsbruck Schulbänke für die Sextner Flüchtlingskinder zur Verfügung und lieferte sie nach Innichen.6Gemeindearchiv Sexten, 1915, Mappe M, Brief an die Gemeinde-Vorstehung von Sexten, 15. September 1915.
Sexten kam die Tatsache, dass es in der Vorkriegszeit zu einem beliebten Ort für Bergbegeisterte aus Nah und Fern geworden war, sehr zugute. Gerade aus Wien waren zahlreiche Feriengäste gekommen und hatten den Ort in ihr Herz geschlossen. Dank persönlicher Beziehungen und Freundschaften, die in jenen Jahren geschlossen worden waren, konnten sich die Sextner an Menschen wie Emanuel von Singer und Rudolf von Granichstaedten-Czerva in höchster Not wenden. Letzterem wurde 1918 das Ehrenbürgerrecht von Sexten für seine Verdienste um das Dorf verliehen.7Hof- und Personalnachrichten. Neues Wiener Tagblatt, 26. April 1918.
Singer, Emanuel von (1916). Die Mütter von Sexten, Neues Wiener Tagblatt, 23. April.
Singer, Emanuel von (1916). Feuilleton. Pustertaler Volk und Priester im Kriege, Neues Wiener Tagblatt, 30. Mai.
Das zerstörte Sexten, Neues Wiener Tagblatt, 8. Februar 1918.
Gemeindearchiv Sexten, 1915, Mappe M, Brief an die Gemeinde-Vorstehung von Sexten, 15. September 1915.
Hof- und Personalnachrichten, Neues Wiener Tagblatt, 26. April 1918.
Das Schicksal der Flüchtlinge im Exil
Für viele Familien bedeutete die Flucht und bisweilen auch die Rückkehr in die Heimat die Trennung von den eigenen Kindern. Der Fall der Familie Tschurtschenthaler zeigt, wie schwer das Schicksal einer Flüchtlingsfamilie sein konnte. Anton Tschurtschenthaler und seine Frau Margareth aus Mitterberg flohen mit ihren Kindern im August 1915 – wie viele andere Sextner auch – zunächst in das Nachbardorf Innichen und ließen sich später in Toblach nieder. Der gesamte Besitz in Sexten war entweder zerstört oder durch die Evakuierung verloren gegangen, die letzten Ersparnisse waren schon bald aufgebraucht, sodass sich Anton Tschurtschenthaler 1917 an die Behörden in Lienz wenden musste. Trotz Arbeit als Aushilfshirte war er nicht mehr in der Lage, für sich und seine Familie zu sorgen; er war am Ende seiner Kräfte. Zudem war seine 50jährige Frau Margareth „fußleidend“, ein Sohn war noch schulpflichtig und die beiden älteren Kinder waren ebenfalls nicht imstande, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Daher sah sich der 65Jährige gezwungen, um die Zuerkennung einer Flüchtlingsunterstützung zu bitten.8Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief des Anton Tschurtschenthaler an die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Lienz, 8. September 1917.
Der Familie Tschurtschenthaler wurde eine Unterstützung aufgrund der dringenden Umstände zuerkannt. Im März 1918 kehrte Anton Tschurtschenthaler in die zerstörte Heimat zurück. Aufgrund des enormen Lebensmittelmangels musste er allerdings die 13jährige Tochter Anna und den elfjährigen Sohn Josef nach Toblach zurückschicken und dort bei einem Bauern „zur Kost“ unterbringen. Die Familie Tschurtschenthaler bat deswegen um weitere Auszahlung der Unterstützung für die beiden Kinder, obwohl die Eltern bereits nach Sexten zurückgekehrt waren und damit ihren Anspruch auf Unterstützung verloren hatten.9Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief der Gemeindevorstehung Toblach an die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Bruneck, Betreff Tschurtschenthaler Anton u.[nd] Margareth Flüchtlingsunterstützung, 16. August 1918. Nach Schilderung ihrer unglücklichen Lage wurden ihnen die Auszahlungen noch bis Februar 1919 zugesprochen, dann wurden sie eingestellt. Die Familie musste sich allerdings erneut an die Behörden wenden, da sie sich wegen der extremen Teuerung in der Nachkriegszeit nicht einmal das Notwendigste anschaffen konnte.10Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief des Anton Tschurtschenthaler an die Bezirkshauptmannschaft Civilkommissär Bruneck, [10]. März 1919. Da jedoch Sexten bereits vom Militär für die Rückkehr freigegeben worden war, erloschen sämtliche Unterstützungsmaßnahmen des österreichischen Staates gegenüber den Flüchtlingen. Nichtsdestotrotz richtete die Familie Tschurtschenthaler ein Ansuchen an die nunmehrige Republik Österreich und bat um eine Nachzahlung der ausgebliebenen Gelder. Die Bitte wurde zwar zur Kenntnis genommen, eine positive Antwort konnte aber nicht garantiert werden.11Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief von Anton u.[nd] Margareth Tschurtschenthaler an das kg. Zivilkommissariat in Bruneck, Betreff Tschurtschenthaler Anton und Margareth, Flüchtlingsunterstützung Nachzahlung, 20. November 1919.
Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief des Anton Tschurtschenthaler an die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Lienz, 8. September 1917.
Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief der Gemeindevorstehung Toblach an die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Bruneck, Betreff Tschurtschenthaler Anton u. Margaret Flüchtlingsunterstützung, 16. August 1918.
Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief des Anton Tschurtschenthaler an die Bezirkshauptmannschaft Civilkommissär Bruneck, [10]. März 1919.
Staatsarchiv Bozen, Behörden der staatlichen Verwaltung Bruneck bis 1924, Brief von Anton u. Margareth Tschurtschenthaler an das kg. Zivilkommissariat in Bruneck, Betreff Tschurtschenthaler Anton und Margaretha, Flüchtlingsunterstützung Nachzahlung, 20. November 1919.
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Graphische Karte, die den Aufenthalt der Flüchtlinge aus Sexten während des Krieges zeigt.