Mit der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn im Mai 1915 rückte die Front in Sexten immer näher. Ab Ende Juli 1915 wurden die beiden Festungen Haideck und Mitterberg täglich beschossen und auch das Dorf selbst geriet unter Granatenbeschuss. Am 31. Juli wurde das Haus des Bürgermeisters Josef Kiniger getroffen: Seine Ziehtochter kam ums Leben und seine Frau verlor ein Bein. Nur einen Tag später wurde das Gasthaus „Zur Post“ des Karl Stemberger getroffen und ein Dutzend Soldaten, welche sich im Speisesaal aufhielten, getötet. Über den Beschuss berichtet ein Brief von Stemberger an den Wiener Redakteur Emanuel von Singer: „Mein Anwesen in Sexten ist total zusammengeschossen und niedergebrannt. Mit knapper Not konnte ich mit zweien meiner Töchter, die bei mir zurückgeblieben waren, nachdem ich meine Frau und meine jüngste Tochter schon früher fortgeschickt hatte, das nackte Leben retten, nachdem der Ort wiederholt beschossen worden war und eine Granate in den Speisesaal eingeschlagen hatte, knapp nachdem ich ihn verlassen hatte.“1Singer, Das Posthotel in Sexten.
Den Beschuss von Sexten und Moos im Sommer 1915 erlebte auch der Hauptmann der „Königlich-Preußischen Fußartilleriebatterie Nr. 102“ des Deutschen Alpenkorps Carl Franz Rose, der seit Anfang August im Sextental weilte und regelmäßig in Briefen an seine Familie über die Kriegseindrücke berichtete. Über die ersten Toten von Sexten schrieb er etwa seinem siebenjährigen Sohn Hans am 3. August 1915: „Gestern haben die bösen Italiener noch ein kleines Mädchen hier totgeschossen. Jetzt müssen alle Leute von hier fort.“2Feldpostbrief an Hans Rose, 3.8.1915, in: Rose, Detlef A. (Hrsg.): In Schussweite. Grüße aus den Dolomiten. Briefe von der Südtiroler Front 1915–1916, München 2015, S. 86 f. Die Evakuierung des Dorfes wurde vom Militär für die Nacht vom 3. auf den 4. August angeordnet. Die Menschen mussten ihr Hab und Gut zurücklassen und sich als Flüchtlinge eine neue Unterkunft suchen. Am 12. August nachmittags wurde die Ortschaft von Brandgranaten fast vollkommen in Schutt und Asche gelegt. Löscharbeiten der angerückten Standschützen hatten keinerlei Erfolg, es konnten nur mehr einzelne Wertgegenstände aus der Pfarrkirche und einigen Häusern gerettet werden. Insgesamt 23 Gebäude und die Pfarrkirche fielen an diesem Tag den Flammen zum Opfer. Zeuge dieser Zerstörung wurde wiederum Carl Franz Rose: „Gestern nun gegen 2.00 Uhr nachmittags belegten die Halunken Sexten wieder mit Brandgranaten und leider mit dem Erfolg, dass bald die Flammen aus der außergewöhnlich großen und schönen Kirche herausschlugen. Löschen war nicht möglich, da die Kerle immer wieder Schrapnells in die Ortschaft jagten. Sexten ist eine große Ortschaft mit vielen hohen massiven Häusern, Gasthöfen usw. Rasend schnell griff das Feuer um sich. Nach einigen Stunden brannte der halbe Ort. Gegen 4.00 Uhr ritt ich mit Albert mal hin – vorsichtig – immer an der Wand lang – und es war ein Schauspiel, wie man es wohl so leicht nicht wieder zu sehen bekommt. Haus auf Haus wurde von den Flammen ergriffen und stürzte schließlich krachend zusammen. So etwas von Flammen hätte ich nicht für möglich gehalten! Der Glanzpunkt des ganzen Schauspiels war der Moment, als der Kirchturm in Flammen aufging und die Spitze mit den Glocken einfiel.“3Feldpostbrief an Claire Rose, 13.8.1915, in: Rose, Detlef A. (Hrsg.), In Schussweite. Grüße aus den Dolomiten. Briefe von der Südtiroler Front 1915–1916, München 2015, S. 97.
Den Anblick des zerstörten und geräumten Dorfes hielt auch ein Kriegsberichterstatter fest, der Anfang September 1915 Sexten einen Besuch abstattete: „Beim ersten Hause des Ortes machen wir halt. Ein Alttiroler Bauernhaus ist’s, mit mächtigem Steinunterbau, der obere Teil aus Holz, gekrönt von dem flachen, halbverwitterten Schindeldach. Die Südfront hat einen Volltreffer erhalten. Es ist, als hätte man die ganze Wand weggehoben wie eine Kulisse. Steintrümmer und zersplitterte Balken liegen herum, das Dach hängt halb geborsten über die eingestürzte Mauer. Und drinnen in der reinlichen Stube, da stehen noch die Betten frisch gemacht, als wären sie eben erst überzogen worden.“4Hans, Tiroler Kriegsbilder.
Erst als die Front geräumt war und die ersten Sextner im Spätsommer bzw. Herbst 1917 in das zerstörte Dorf zurückkehrten, konnte mit dem mühsamen Wiederaufbau des Dorfes begonnen werden.
Holzer, Rudolf (2002). Sexten: Vom Bergbauerndorf Zur Tourismusgemeinde. Sesto-Sexten: Tappeiner Verlag.
Singer, Emanuel von (1916). Das Posthotel in Sexten, Neues Wiener Tagblatt, 4. März.
Feldpostbrief an Hans Rose, 3.8.1915. In Rose, Detlef A. (Hrsg.), In Schussweite. Grüße aus den Dolomiten. Briefe von der Südtiroler Front 1915–1916. München 2015, S. 86 f.
Feldpostbrief an Claire Rose, 13.8.1915. In Rose, Detlef A. (Hrsg.), In Schussweite. Grüße aus den Dolomiten. Briefe von der Südtiroler Front 1915–1916. München 2015, S. 97.
S. Hans (1915). Tiroler Kriegsbilder, Neues Wiener Tagblatt, 8. September.
Der Brand der Pfarrkirche von Sexten
Beim Beschuss Sextens im August 1915 wurde die Pfarrkirche schwer getroffen und zerstört. Der Dach- und Glockenstuhl brannten aus, die Turmspitze brach ab und die Kuppel wurde von Granaten durchschlagen. Soldaten des Standschützen Baons Innsbruck I wurden zur Brandlöschung und Rettung der wertvollen Kirchengüter im Inneren der Pfarrkirche ausgesandt. Oberjäger Heinrich Hierner gab zu dieser Rettungsaktion Folgendes zu Protokoll: „Am 12.8.1915 nachmittags befand ich mich auf einem Dienstgang nach Moos, während welcher Zeit der Ort Sexten in Brand geschossen wurde. In Sexten selbst traf ich Herrn k.k. Feldkuraten Hosp, welcher mir mitteilte, daß in der Kirche noch verschiedene Wertsachen wie Meßkleider, Fahnen, Figuren, Bilder et[c]. seien, welche unbedingt herausbefördert werden müssen. Ich ging sofort nebst mehreren anderen Soldaten Herrn Kuraten Hosp in die Kirche nach und war eben mit Abschrauben einer größeren Fahne beschäftigt, als die Schnur des großen Mittellüsters unbemerkt zu brennen anfing. Beim Wegtragen der Fahne fiel der Lüster knapp vor mir nieder und ist es nur einem glücklichen Zufalle zu verdanken, daß ich davon nicht getroffen, […] erschlagen wurde. Nach diesem Vorfalle trug ich die Fahne hinaus, kehrte wieder zurück u[nd] holte mit der anderen Mannschaft alle wertvollen Gegenstände heraus u[nd] legte diese am freien Felde nieder. Bei Beendigung dieser Arbeit wurde das Schrappnellfeuer derart heftig, daß wir die Kirche durch das Haupttor nicht mehr verlassen konnten, sondern uns durch Einschlagen einer Seitenpforte den Weg ins Freie suchen mussten. Im Freien angelangt, schlug wieder in nächster Nähe eine Granate ein, worauf wir uns ins Lager zurückzogen. Die am Felde liegen gebliebenen Wertsachen wurden später mit Fuhrwerk abgeholt. […]”5Tiroler Landesarchiv, Standschützen Baon Innsbruck I 1914-1918, Faszikel I, k.u.k. Standschützen Bataillon Innsbruck I. 4. Kompagnie, Protokoll vom 23. August 1915.
Das Feuer konnte zwar nicht gelöscht werden, aber zumindest gelang es, das wertvolle Inventar der Kirche, wie Altarblätter, Statuen und Bilder, in Sicherheit zu bringen. Im Winter 1916/17 brach das mittlere Gewölbe der Pfarrkirche unter dem großen Druck der Schneemassen ein; die Kirche war also bei Rückkehr der ersten Sextner in ihr Heimatdorf so zerstört, dass dort keine Messen gelesen werden konnten. Unter Mithilfe des Sextner Pfarrers Heinrich Schwaighofer wurde daher im August 1917 zunächst notdürftig eine Waldkapelle in der Holzerschlucht am Außerberg errichtet. Später diente die Spritzenhütte der Feuerwehr als Behelfskirche, anschließend wurde eine Kriegsbaracke neben dem Friedhof für kirchliche Zeremonien und Messfeiern genutzt.
Holzer, Rudolf (2002). Sexten: Vom Bergbauerndorf Zur Tourismusgemeinde. Sesto-Sexten: Tappeiner Verlag.
Tiroler Landesarchiv, Standschützen Baon Innsbruck I 1914-1918, Faszikel I, k.u.k. Standschützen Bataillon Innsbruck I. 4. Kompagnie, Protokoll vom 23. August 1915.
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